Ein dünnes Lächeln, das gerade eben
seine Augen erreichte, erschien auf Lukas' Gesicht, als er die SMS
las. Am Rande registrierte er, dass er schon länger nicht mehr
ehrlich und tief empfunden gelächelt hatte, die Muskelbewegung
seines Gesichtes fühlte sich schon fast ungewohnt an. Offensichtlich
war sein langer Brief im weit entfernten München bei seiner
Schulfreundin angekommen, die dort seit einigen Jahren studierte. Der
Kontakt war mehr oder minder eingeschlafen, was beide bei den
seltenen Gelegenheiten der Kommunikation sehr bedauerten. Sie freute
sich der SMS nach sehr über den Brief, den er mit Bildern aus der
Heimat und amüsanten Anekdoten gefüllt hatte. Immer noch lächelnd
tippte Lukas eine Antwort in sein Handy. Im Gegensatz zu ihr war er
nicht sonderlich herumgekommen, er wohnte noch immer nur knapp 20 km
von seinem Elternhaus entfernt, während sie vor und während ihres
Studiums die halbe Welt bereist hatte. Nachdem die kurze und
freundliche Antwort verschickt worden war, steckte Lukas seine Hände
tief in seine Hosentaschen um sie aufzuwärmen. Der Winter hatte,
wenn auch noch nicht dem Kalender nach, Einzug gehalten, ein eisiger
Wind wehte durch die Straßen und ging durch Mark und Bein.
Das Ende des Jahres stand bevor,
überall tauchten leuchtende Dekorationselemente auf, die
Fußgängerzone stand voller Buden, aus denen es abwechselnd nach
altem Fett oder Zucker roch und die Menschen rannten umher, als
würden sie gejagt werden. In etwas weniger als einem Monat stand
Weihnachten ins Haus und wie in jedem Jahr mussten riesige Mengen an
Präsenten herangeschafft werden, um alle Familienmitglieder, Freunde
und in einigen Fällen wohl auch noch Nachbarn und Haustiere
zufrieden zu stellen. Lukas hatte kaum einen Blick für das
gestresste Treiben um ihn herum, gedankenverloren und eher instinktiv
wich er immer wieder Passanten aus. Auch er suchte etwas, doch war es
etwas ganz anderes.
Das Vorhaben stand seit einigen Wochen
für ihn fest. Auch über die Zeit war er sich schon sicher,
Silvester sollte es passieren, im Idealfall um Mitternacht. Das wo
und das wie gestalteten sich allerdings schwieriger. Er hatte schon
in der Vergangenheit häufiger über diese Möglichkeit nachgedacht
und auch über Methoden es durch zu ziehen. Er wollte, dass es
schnell und einigermaßen schmerzlos ginge, was gar nicht so leicht
war, wie er durch seine Recherchen erfahren musste.
Aufmerksam blickte er sich auf seinem
Weg in der Stadt um, betrachtete nachdenklich und kritisch hohe
Gebäude, Brücken und Denkmäler. Die meisten Brücken waren ihm
nicht hoch genug, die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges war gering.
Hohe Gebäude waren genug vorhanden, doch stellte sich hier die Frage
des Zugangs. Er musste bedenken, dass er mitten in der Silvesternacht
in das Haus hinein und auf das Dach gelangen musste ohne aufgehalten
zu werden. Brücken waren da natürlich einfacher, weil frei
zugänglich. Lukas legte seinen Kopf in den Nacken um die Spitze
eines Kirchturms zu betrachten. Nun ja, vermutlich nicht praktikabel.
Es fing vor einigen Jahren an, dass
Lukas begonnen hatte sich Ultimaten zu setzen. Aus Unzufriedenheit
mit seinem Leben, Depression und Furcht vor der Zukunft hatte er oft
an speziellen Terminen wie seinem Geburtstag, Silvester, Weihnachten
oder ähnlichem mit sich selbst ausgemacht, es in einem Jahr zu tun,
wenn er bis dahin sein Leben nicht im Griff hätte. Doch er hatte es
niemals umgesetzt, ihn hatte jedes Mal der Mut verlassen... oder
hatte er ihn wieder gefunden? In diesem Jahr war es anders. Woran es
lag, konnte er nicht sagen, aber es war ihm von einem auf den anderen
Moment klar geworden. Er würde es tun, er würde planvoll vorgehen
und sich vorbereiten, es konnte nur noch diese Lösung geben.
Auf einer der Brücken, die aus der
Innenstadt hinausführten, blieb Lukas stehen und blickte hinab. Die
Höhe mochte genügen, das Geländer war kein Hindernis und der Ort
war leicht erreichbar. Vermutlich würden an Silvester einige Leute
hier sein um das Feuerwerk zu betrachten, selbst Dinge in die Luft zu
sprengen oder einfach nur in Gesellschaft den Jahreswechsel zu
feiern. Lukas dachte kurz nach, war sich dann aber sicher, dass sie
ihn wohl kaum würden aufhalten können, wenn sie es überhaupt
bemerkten. Er ließ seinen Blick über die Straße wandern, die sich
in einiger Entfernung unter ihm entlang zog und auf der Autos dahin
rasten. Der Verkehr würde an Silvester kein Problem sein, die Höhe
machte ihn allerdings nun doch skeptisch. Es würde genügen müssen,
einen besseren Ort konnte er nicht finden. Kopf voran, dann sollte
nichts schiefgehen.
Zum planvollen Vorgehen gehörten auch
Gedanken an seine Freunde und Familie. Mit der zweiten hatte er sich
bereits vor Jahren zerstritten, doch gab es noch einige Leute, die
ihm etwas bedeuteten, und von denen er glaubte, dass er ihnen auch
etwas bedeutete. Beinahe hätte er an dieser Stelle seinen Plan
wieder verworfen. Nach einigem Nachdenken und Abwägen entschied er
sich auch hier für eine methodische Vorgehensweise. Er würde sein
Bestes geben um den Menschen, die er mochte, noch ein letztes Mal ein
gutes Gefühl zu geben, als vorgezogene Abbitte für seine Tat, als
Zeichen der Zuneigung, um sich selbst besser zu fühlen, wie es viele
Wohltäter wohl tun. Begonnen hatte er vor zwei Tagen mit dem Brief
an seine Schulfreundin, weitere Briefe und Karten hatte er heute in
den Briefkasten geworfen, bevor er sich auf die Suche nach dem
geeigneten Ort gemacht hatte.
Zurück in seiner kleinen Wohnung ließ
Lukas sich in seinen Sessel fallen ohne das Licht einzuschalten. Die
Stille war erdrückend und er hielt es nur wenige Minuten aus, dann
musste er den Fernseher einschalten. Belangloses Geplapper und
Gedudel übertönten seine Gedanken und sorgten für einen Augenblick
der Entspannung. Der Moment glitt schnell vorbei und er spürte den
Tatendrang in sich. Lukas startete seinen Laptop und rief die Liste
auf. Er hatte all jene Personen, denen er noch etwas Gutes tun
wollte, zusammengetragen und brütete nun über den Namen. Er hatte
noch einiges vor sich.
In den nächsten Tagen war Lukas sehr
aktiv. Er kündigte seine Arbeit und verkaufte einen großen Teil
seines Besitzes, den er bald ohnehin nicht mehr brauchen würde. Das
Geld wollte er verwenden für die vielen kleinen Aktionen, die er für
seine Freunde geplant hatte. Pakete mit kleinen Geschenken wurden im
nächsten Schritt an verschiedene Orte verschickt, jedes speziell und
passend für die jeweilige Person ausgewählt. Lukas verabredete sich
an jedem Tag mit jemandem, widmete all seine Zeit den Menschen, die
er liebte. Manch einer reagierte überrascht oder verwundert, alle
freuten sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Lukas
blühte in diesen Tagen und Wochen förmlich auf und lebte so
intensiv, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er wurde ebenfalls oft
eingeladen und verbrachte viel Zeit mit seinen Freunden, doch stets
wich er der Frage nach der Silvesterplanung aus und gab vor, bereits
etwas anderes geplant zu haben.
Der große Tag rückte näher.
Weihnachten kam und ging und plötzlich wachte Lukas auf und es war
Silvester. Er blieb an diesem Tag lange im Bett liegen und starrte an
die Decke. Nachdem es nun endlich soweit war, fühlte er sich doch
wieder unsicher. Sollte er es tatsächlich tun? Der Monat, der hinter
ihm lag, war so anders gewesen, als die trüben Tage zuvor, die ihn
zu dieser Entscheidung getrieben hatten. Irgendwann ließ er seinen
Blick aus dem Fenster hinaus gleiten, sah die graue Wolkendecke und
die Regentropfen an der Scheibe. Er kletterte aus dem Bett und
bereitete sich für den Tag vor. Draußen hörte er die ersten
Feuerwerkskörper, die von Ungeduldigen gezündet wurden.
Der Tag zog sich hin wie Kaugummi,
immer wieder schaute Lukas auf die Uhr und konnte kaum einen klaren
Gedanken fassen. Am frühen Nachmittag verließ er seine Wohnung um
einen Stapel mit vorbereiteten Briefen einzuwerfen. Er wollte seine
Angelegenheiten geregelt wissen und hatte an all jene Unternehmen und
Ämter, die Teil seines Lebens waren, erklärende Briefe und
Kündigungen geschrieben, Banken, Versicherungen,
Telefongesellschaft,... und er hatte Abschiedsbriefe an seine Freunde
vorbereitet, für jeden von ihnen einen einzelnen, individuellen, in
dem er sein Verhalten zu erklären versuchte und um Verständnis bat.
Die Briefe würden wohl am 2. oder 3. bei den Empfängern eintreffen,
Tage nachdem er es getan hatte.
Der Abend brach an. Lukas aß ein
wenig, hatte aber eigentlich keinen Hunger mehr. Aus den Häusern und
Wohnungen ringsum hörte er Gelächter und Feiern, draußen knallte
und blitzte es inzwischen fast ununterbrochen. Die letzten Stunden
bis Mitternacht kamen ihm wie die längsten seines Lebens vor. Immer
wieder kamen ihm Zweifel, ob er das richtige tat. Doch letztlich war
es nun zu spät, er hatte bereits allen mitgeteilt, was er tun würde,
ein Rückzieher war nicht mehr möglich. Kurz vor Mitternacht zog er
sich an, löschte alle Lichter in der Wohnung und zog alle
Elektrogeräte vom Netz ab. Ein Schreiben mit Anweisungen, was mit
seinem verbliebenen Besitz zu geschehen habe, legte er gut sichtbar
auf den Küchentisch. Sein Handy, seine Uhr und seine Brieftasche
legte er daneben, er würde beides nicht mehr brauchen. Er blickte
sich noch ein letztes Mal um, verließ dann die Wohnung und zog die
Tür hinter sich ins Schloss. Den Schlüssel ließ er stecken, er
würde auch ihn nicht mehr brauchen.
Unten auf der Straße feierten die
Menschen den bevorstehenden Jahreswechsel. Der Regen hatte aufgehört
und es wäre wohl eine sternenklare Nacht gewesen, wäre die Luft
nicht von Raketen und Schwefeldämpfen erfüllt gewesen. Lukas nickte
einigen Nachbarn zu und machte sich dann auf den Weg. Er gab sich
alle Mühe den Menschen auszuweichen, ganz gelang es ihm nicht, er
wurde einige Male von offenbar übermäßig euphorischen Fremden in
den Arm genommen und eingeladen mit ihnen zu feiern. Etwas verlegen
lehnte er jedes Mal ab und bemühte sich sein Ziel zu erreichen.
Die Brücke war, wie er es erwartet
hatte, von einigen Leuten als Aussichtspunkt gewählt worden, doch
hielt sich die Menge in Grenzen. Lukas hielt sich von ihnen fern und
lehnte sich an das Geländer. Neben all den blitzenden und
leuchtenden Farbspielen konnte er den Kirchturm sehen, an dessen Uhr
die Zeiger sich nun unaufhaltsam Mitternacht näherten. Nachdenklich
schaute er nach unten. Tatsächlich fuhren heute keine Autos und
glücklicherweise hielten sich auch keine Menschen dort auf. Es
schien alles nach Plan zu verlaufen.
Die Glocke schlug. Es war so weit.
Lukas ließ einen langen Blick über das Feuerwerk schweifen, das
nun, als das neue Jahr anbrach, noch viel farbenprächtiger und
ausgelassener zu werden schien. Er hörte überall die Menschen, die
sich in die Arme fielen und sich ein frohes neues Jahr wünschten,
als er sich langsam an dem Geländer hochzog. Die Glocke schlug noch
mehrmals, der letzte Zweifel regte sich in Lukas' Geist, als er dort
stand, unter sich die Leere und der harte Asphalt. Kurz überlegte er
wieder herunter zu steigen, da hörte er hinter sich überraschte,
erschrockene Stimmen, die sich ihm schnell näherten. Offenbar wollte
man ihn von seinem Vorhaben abhalten, die Entscheidung war gefallen.
Lukas atmete durch, der letzte Atemzug seines Lebens, dann trat er
ins Leere.
In seiner dunklen Wohnung begann sein
Handy zu piepen und zu vibrieren, als die Neujahrsgrüße seiner
Freunde eingingen.