Donnerstag, 28. November 2013

Story: Jahreswechsel

Ein dünnes Lächeln, das gerade eben seine Augen erreichte, erschien auf Lukas' Gesicht, als er die SMS las. Am Rande registrierte er, dass er schon länger nicht mehr ehrlich und tief empfunden gelächelt hatte, die Muskelbewegung seines Gesichtes fühlte sich schon fast ungewohnt an. Offensichtlich war sein langer Brief im weit entfernten München bei seiner Schulfreundin angekommen, die dort seit einigen Jahren studierte. Der Kontakt war mehr oder minder eingeschlafen, was beide bei den seltenen Gelegenheiten der Kommunikation sehr bedauerten. Sie freute sich der SMS nach sehr über den Brief, den er mit Bildern aus der Heimat und amüsanten Anekdoten gefüllt hatte. Immer noch lächelnd tippte Lukas eine Antwort in sein Handy. Im Gegensatz zu ihr war er nicht sonderlich herumgekommen, er wohnte noch immer nur knapp 20 km von seinem Elternhaus entfernt, während sie vor und während ihres Studiums die halbe Welt bereist hatte. Nachdem die kurze und freundliche Antwort verschickt worden war, steckte Lukas seine Hände tief in seine Hosentaschen um sie aufzuwärmen. Der Winter hatte, wenn auch noch nicht dem Kalender nach, Einzug gehalten, ein eisiger Wind wehte durch die Straßen und ging durch Mark und Bein.

Das Ende des Jahres stand bevor, überall tauchten leuchtende Dekorationselemente auf, die Fußgängerzone stand voller Buden, aus denen es abwechselnd nach altem Fett oder Zucker roch und die Menschen rannten umher, als würden sie gejagt werden. In etwas weniger als einem Monat stand Weihnachten ins Haus und wie in jedem Jahr mussten riesige Mengen an Präsenten herangeschafft werden, um alle Familienmitglieder, Freunde und in einigen Fällen wohl auch noch Nachbarn und Haustiere zufrieden zu stellen. Lukas hatte kaum einen Blick für das gestresste Treiben um ihn herum, gedankenverloren und eher instinktiv wich er immer wieder Passanten aus. Auch er suchte etwas, doch war es etwas ganz anderes.

Das Vorhaben stand seit einigen Wochen für ihn fest. Auch über die Zeit war er sich schon sicher, Silvester sollte es passieren, im Idealfall um Mitternacht. Das wo und das wie gestalteten sich allerdings schwieriger. Er hatte schon in der Vergangenheit häufiger über diese Möglichkeit nachgedacht und auch über Methoden es durch zu ziehen. Er wollte, dass es schnell und einigermaßen schmerzlos ginge, was gar nicht so leicht war, wie er durch seine Recherchen erfahren musste.

Aufmerksam blickte er sich auf seinem Weg in der Stadt um, betrachtete nachdenklich und kritisch hohe Gebäude, Brücken und Denkmäler. Die meisten Brücken waren ihm nicht hoch genug, die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges war gering. Hohe Gebäude waren genug vorhanden, doch stellte sich hier die Frage des Zugangs. Er musste bedenken, dass er mitten in der Silvesternacht in das Haus hinein und auf das Dach gelangen musste ohne aufgehalten zu werden. Brücken waren da natürlich einfacher, weil frei zugänglich. Lukas legte seinen Kopf in den Nacken um die Spitze eines Kirchturms zu betrachten. Nun ja, vermutlich nicht praktikabel.

Es fing vor einigen Jahren an, dass Lukas begonnen hatte sich Ultimaten zu setzen. Aus Unzufriedenheit mit seinem Leben, Depression und Furcht vor der Zukunft hatte er oft an speziellen Terminen wie seinem Geburtstag, Silvester, Weihnachten oder ähnlichem mit sich selbst ausgemacht, es in einem Jahr zu tun, wenn er bis dahin sein Leben nicht im Griff hätte. Doch er hatte es niemals umgesetzt, ihn hatte jedes Mal der Mut verlassen... oder hatte er ihn wieder gefunden? In diesem Jahr war es anders. Woran es lag, konnte er nicht sagen, aber es war ihm von einem auf den anderen Moment klar geworden. Er würde es tun, er würde planvoll vorgehen und sich vorbereiten, es konnte nur noch diese Lösung geben.

Auf einer der Brücken, die aus der Innenstadt hinausführten, blieb Lukas stehen und blickte hinab. Die Höhe mochte genügen, das Geländer war kein Hindernis und der Ort war leicht erreichbar. Vermutlich würden an Silvester einige Leute hier sein um das Feuerwerk zu betrachten, selbst Dinge in die Luft zu sprengen oder einfach nur in Gesellschaft den Jahreswechsel zu feiern. Lukas dachte kurz nach, war sich dann aber sicher, dass sie ihn wohl kaum würden aufhalten können, wenn sie es überhaupt bemerkten. Er ließ seinen Blick über die Straße wandern, die sich in einiger Entfernung unter ihm entlang zog und auf der Autos dahin rasten. Der Verkehr würde an Silvester kein Problem sein, die Höhe machte ihn allerdings nun doch skeptisch. Es würde genügen müssen, einen besseren Ort konnte er nicht finden. Kopf voran, dann sollte nichts schiefgehen.

Zum planvollen Vorgehen gehörten auch Gedanken an seine Freunde und Familie. Mit der zweiten hatte er sich bereits vor Jahren zerstritten, doch gab es noch einige Leute, die ihm etwas bedeuteten, und von denen er glaubte, dass er ihnen auch etwas bedeutete. Beinahe hätte er an dieser Stelle seinen Plan wieder verworfen. Nach einigem Nachdenken und Abwägen entschied er sich auch hier für eine methodische Vorgehensweise. Er würde sein Bestes geben um den Menschen, die er mochte, noch ein letztes Mal ein gutes Gefühl zu geben, als vorgezogene Abbitte für seine Tat, als Zeichen der Zuneigung, um sich selbst besser zu fühlen, wie es viele Wohltäter wohl tun. Begonnen hatte er vor zwei Tagen mit dem Brief an seine Schulfreundin, weitere Briefe und Karten hatte er heute in den Briefkasten geworfen, bevor er sich auf die Suche nach dem geeigneten Ort gemacht hatte.

Zurück in seiner kleinen Wohnung ließ Lukas sich in seinen Sessel fallen ohne das Licht einzuschalten. Die Stille war erdrückend und er hielt es nur wenige Minuten aus, dann musste er den Fernseher einschalten. Belangloses Geplapper und Gedudel übertönten seine Gedanken und sorgten für einen Augenblick der Entspannung. Der Moment glitt schnell vorbei und er spürte den Tatendrang in sich. Lukas startete seinen Laptop und rief die Liste auf. Er hatte all jene Personen, denen er noch etwas Gutes tun wollte, zusammengetragen und brütete nun über den Namen. Er hatte noch einiges vor sich.

In den nächsten Tagen war Lukas sehr aktiv. Er kündigte seine Arbeit und verkaufte einen großen Teil seines Besitzes, den er bald ohnehin nicht mehr brauchen würde. Das Geld wollte er verwenden für die vielen kleinen Aktionen, die er für seine Freunde geplant hatte. Pakete mit kleinen Geschenken wurden im nächsten Schritt an verschiedene Orte verschickt, jedes speziell und passend für die jeweilige Person ausgewählt. Lukas verabredete sich an jedem Tag mit jemandem, widmete all seine Zeit den Menschen, die er liebte. Manch einer reagierte überrascht oder verwundert, alle freuten sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Lukas blühte in diesen Tagen und Wochen förmlich auf und lebte so intensiv, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er wurde ebenfalls oft eingeladen und verbrachte viel Zeit mit seinen Freunden, doch stets wich er der Frage nach der Silvesterplanung aus und gab vor, bereits etwas anderes geplant zu haben.

Der große Tag rückte näher. Weihnachten kam und ging und plötzlich wachte Lukas auf und es war Silvester. Er blieb an diesem Tag lange im Bett liegen und starrte an die Decke. Nachdem es nun endlich soweit war, fühlte er sich doch wieder unsicher. Sollte er es tatsächlich tun? Der Monat, der hinter ihm lag, war so anders gewesen, als die trüben Tage zuvor, die ihn zu dieser Entscheidung getrieben hatten. Irgendwann ließ er seinen Blick aus dem Fenster hinaus gleiten, sah die graue Wolkendecke und die Regentropfen an der Scheibe. Er kletterte aus dem Bett und bereitete sich für den Tag vor. Draußen hörte er die ersten Feuerwerkskörper, die von Ungeduldigen gezündet wurden.

Der Tag zog sich hin wie Kaugummi, immer wieder schaute Lukas auf die Uhr und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Am frühen Nachmittag verließ er seine Wohnung um einen Stapel mit vorbereiteten Briefen einzuwerfen. Er wollte seine Angelegenheiten geregelt wissen und hatte an all jene Unternehmen und Ämter, die Teil seines Lebens waren, erklärende Briefe und Kündigungen geschrieben, Banken, Versicherungen, Telefongesellschaft,... und er hatte Abschiedsbriefe an seine Freunde vorbereitet, für jeden von ihnen einen einzelnen, individuellen, in dem er sein Verhalten zu erklären versuchte und um Verständnis bat. Die Briefe würden wohl am 2. oder 3. bei den Empfängern eintreffen, Tage nachdem er es getan hatte.

Der Abend brach an. Lukas aß ein wenig, hatte aber eigentlich keinen Hunger mehr. Aus den Häusern und Wohnungen ringsum hörte er Gelächter und Feiern, draußen knallte und blitzte es inzwischen fast ununterbrochen. Die letzten Stunden bis Mitternacht kamen ihm wie die längsten seines Lebens vor. Immer wieder kamen ihm Zweifel, ob er das richtige tat. Doch letztlich war es nun zu spät, er hatte bereits allen mitgeteilt, was er tun würde, ein Rückzieher war nicht mehr möglich. Kurz vor Mitternacht zog er sich an, löschte alle Lichter in der Wohnung und zog alle Elektrogeräte vom Netz ab. Ein Schreiben mit Anweisungen, was mit seinem verbliebenen Besitz zu geschehen habe, legte er gut sichtbar auf den Küchentisch. Sein Handy, seine Uhr und seine Brieftasche legte er daneben, er würde beides nicht mehr brauchen. Er blickte sich noch ein letztes Mal um, verließ dann die Wohnung und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Den Schlüssel ließ er stecken, er würde auch ihn nicht mehr brauchen.

Unten auf der Straße feierten die Menschen den bevorstehenden Jahreswechsel. Der Regen hatte aufgehört und es wäre wohl eine sternenklare Nacht gewesen, wäre die Luft nicht von Raketen und Schwefeldämpfen erfüllt gewesen. Lukas nickte einigen Nachbarn zu und machte sich dann auf den Weg. Er gab sich alle Mühe den Menschen auszuweichen, ganz gelang es ihm nicht, er wurde einige Male von offenbar übermäßig euphorischen Fremden in den Arm genommen und eingeladen mit ihnen zu feiern. Etwas verlegen lehnte er jedes Mal ab und bemühte sich sein Ziel zu erreichen.

Die Brücke war, wie er es erwartet hatte, von einigen Leuten als Aussichtspunkt gewählt worden, doch hielt sich die Menge in Grenzen. Lukas hielt sich von ihnen fern und lehnte sich an das Geländer. Neben all den blitzenden und leuchtenden Farbspielen konnte er den Kirchturm sehen, an dessen Uhr die Zeiger sich nun unaufhaltsam Mitternacht näherten. Nachdenklich schaute er nach unten. Tatsächlich fuhren heute keine Autos und glücklicherweise hielten sich auch keine Menschen dort auf. Es schien alles nach Plan zu verlaufen.

Die Glocke schlug. Es war so weit. Lukas ließ einen langen Blick über das Feuerwerk schweifen, das nun, als das neue Jahr anbrach, noch viel farbenprächtiger und ausgelassener zu werden schien. Er hörte überall die Menschen, die sich in die Arme fielen und sich ein frohes neues Jahr wünschten, als er sich langsam an dem Geländer hochzog. Die Glocke schlug noch mehrmals, der letzte Zweifel regte sich in Lukas' Geist, als er dort stand, unter sich die Leere und der harte Asphalt. Kurz überlegte er wieder herunter zu steigen, da hörte er hinter sich überraschte, erschrockene Stimmen, die sich ihm schnell näherten. Offenbar wollte man ihn von seinem Vorhaben abhalten, die Entscheidung war gefallen. Lukas atmete durch, der letzte Atemzug seines Lebens, dann trat er ins Leere.

In seiner dunklen Wohnung begann sein Handy zu piepen und zu vibrieren, als die Neujahrsgrüße seiner Freunde eingingen.