Guten Tag. Mein Name ist Jan und ich
bin, wenn Sie dies lesen, soeben von einem Hochhaus gesprungen. Ich
wurde nicht gestoßen, niemand hat mich gezwungen dies zu tun, ich
habe aus freien Stücken und im (vielleicht nicht vollen) Besitz
meiner geistigen Kräfte entschieden meinem Leben ein Ende zu machen.
Es gibt viele Worte dafür: Selbstmord, Freitod, Selbsttötung... ich
persönlich bevorzuge „Suizid“. Es wirkt gleich viel gebildeter,
wenn das Wort, das man verwendet, aus dem Latein kommt und es
verschleiert auf diese Weise auch noch wunderbar die gewalttätige
Endgültigkeit der Handlung.
Ich nehme im Sturz Fahrt auf, ich spüre
den Wind auf meiner Haut und sehe das oberste Stockwerk an mir
vorbeirauschen. Interessant, dass ich Ihnen das noch immer mitteilen
kann, was? Auch wenn der Weg nach unten der letzte Moment meines
Lebens sein mag, so zieht er sich doch hin wie Kaugummi, Sekunden
werden zu Minuten, Minuten zu Stunden und ich falle und falle. Ich
kann unten den Grund sehen, der sich nähert, die Höhe des Gebäudes
habe ich bewusst gewählt, ich wollte sicher gehen, dass nichts
falsch läuft. Kurz schießt mir der Gedanke durch den Kopf, ob ich
wohl bis unten die maximale Fallgeschwindigkeit erreichen werde.
Erinnerungen an den Physikunterricht erscheinen vor meinem geistigen
Auge, doch ich weiß nur noch, dass es mit der Masse des fallenden
Gegenstandes und der zurückgelegten Entfernung zusammenhängt.
Fallender Gegenstand. Das bin ich dann nun wohl auch. Ein
physikalisches Experiment.
Ich hatte ein wenig den Film meines
Lebens erwartet, der während des Sturzes abläuft. Ich bin nicht
sonderlich enttäuscht, dass die Vorstellung ausbleibt. Hätte ich
ein bemerkenswertes Leben voller filmwürdiger Highlights gehabt,
wäre ich wohl nicht gesprungen, eine Wiederholung meines vielfachen
Versagens ist nicht in meinem Interesse. So viele Fenster, so viele
Stockwerke, die an mir vorbei sausen. Wer mag dahinter wohl leben,
wie mag es diesen Menschen gehen? Ob einer von ihnen meinen Sturz
bemerkt? Nun regt sich doch ein schlechtes Gewissen in mir, denn mir
wird bewusst, dass jemand die Sauerei, die ich gleich da unten
anrichten werde, entdecken und jemand sie auch entfernen muss, zwei
Aufgaben, die sicherlich nicht viel Freude bereiten. Es ist ein
selbstsüchtiger Schritt, den ich da gegangen bin, doch es gibt
einige Schritte im Leben, die man nur vorwärts, aber niemals zurück
gehen kann.
Der Boden kommt nun rasant näher, ich
erkenne bereits die Pflastersteine, die gleich meinen Schädel zum
Platzen bringen werden. Zumindest hoffe ich das, es erschien mir als
die schnellste Lösung mit dem Kopf voran zu fallen, ein Aufprall und
ein möglichst unmittelbares Ende. Doch ich merke, dass der Plan wohl
nicht so ganz aufgeht, mein Körper fällt nicht etwa gerade sondern
ist ins Schlingern geraten. Ich drehe mich bei meinem Sturz und kann
nun nicht mehr sicher sagen, welcher Teil meines Körpers zuerst
aufschlagen wird. Das habe ich so nicht gewollt, doch ich gehe davon
aus, dass es egal ist, der Aufprall dürfte auf jeden Fall tödlich
enden. Auf die eine oder die andere Weise.
Der Wind zerzaust mein Haar und ich
spüre ein Frösteln, es ist kalt hier an der Luft. Aber die Kälte
wird bald vergehen. Ich denke an meine Freunde und meine Familie, für
die ich Abschiedsbriefe hinterlegt habe. Zwar war der Schritt
halbwegs spontan, doch habe ich schon lange mit dem Gedanken
gespielt, es war dann keine große Sache alles so in die Wege zu
leiten, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wie werden sie wohl darauf
reagieren, wie wird ihr Leben weitergehen? Bei den meisten wird sich
wohl wenig ändern, ich kann mir denken, dass es sie nicht sonderlich
trifft. Einige werden wohl eher wütend sein als traurig und mich
hassen für das, was ich hier gerade tue. Und einige... ich sehe zwei
Gesichter vor mir, aufgelöst in Tränen. Für sie wird das Leben nie
mehr so sein, wie es war, ich tue ihnen sehr weh. Ich schlucke, es
ist schwer, ich habe einen Kloß im Hals.
Ich versuche diese Gedanken zu
vertreiben, doch sie haben sich festgesetzt. Kennen Sie das, wenn Sie
krampfhaft versuchen nicht an etwas bestimmtes zu denken? Ziemlich
sicher gelingt das nicht. Was mache ich hier, was fällt mir ein?
Selbstbestimmung über sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod ist
ja schön und gut, aber ich mache hier mehr kaputt als nur meinen
Körper. Ich liebe diese Menschen und will nicht dass es ihnen
schlecht geht, ich hätte niemals springen sollen, ich... ich schlage
auf. Der Aufprall drückt mir alle Luft aus dem Körper, es tut
höllisch weh, auch wenn ich gehofft hatte, dass ich das nicht mehr
spüre. Knochen bersten, mein Blut spritzt überall hin, Organe
werden zerquetscht, die Schmerzen steigern sich ins Unermessliche.
Und dann öffne ich die Augen.
Ich sehe nach unten, trete zügig einen
Schritt von der Kante des Daches zurück. Ich zittere am ganzen
Körper, während ich tief durchatme und versuche mich zu beruhigen.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon stand, wie jedes Mal habe
ich mein Zeitgefühl verloren. „Ich werde auch heute nicht
springen!“ Die Worte kommen erst sehr leise, ich muss mich
räuspern, und wiederhole sie noch einmal, lauter, klarer,
deutlicher. Während ich mich weiter vom Dach zurückziehe und mich
der Treppe nach unten nähere, kann ich wieder besser atmen, spüre
das Sonnenlicht auf der Haut und höre den Lärm der Stadt dort unter
mir. Ich nicke dem Rand zu, meiner Hassliebe, und murmele „Bis
morgen“. Vielleicht auch erst übermorgen oder nächste Woche. Wer
weiß schon, was kommen wird?