Sonntag, 5. Mai 2013

Wahnsinn des Alltags: Ein perverses Vergnügen



Eine Gruppe von Menschen sitzt irgendwo allein und unterhält sich über Gott und die Welt, ernste Themen, unwichtige Themen, lustiges und tiefschürfendes. Einige von ihnen sprechen weitaus mehr als die anderen, scheinen zu allem eine Meinung zu haben, die sie auch unbedingt jedem am Tisch mitteilen wollen, auch wenn sie noch so unberührt von Fakten und Wissen zu sein scheint und oft genug auch eigentlich überhaupt nichts mit dem aktuellen Gespräch zu tun hat. Doch der Klang der eigenen Stimme motiviert sie, spornt sie zu Höchstleistung in der Geräuschproduktion an und unbedingt muss die offensichtliche Weisheit der vielen Worte allen Anwesenden zuteilwerden. Und solange niemand sie unterbricht oder etwas anderes tut, als zustimmend zu nicken, zu lächeln und ab und zu Stichworte einzuwerfen, scheint die Welt für diese Wortgewaltigen in Ordnung zu sein.

Doch es gibt etwas, das offenbar ihre Aufmerksamkeit zuverlässig auf sich zieht, dass so wichtig ist, so unbedingt angesprochen werden muss, dass es nicht ignoriert werden kann und früher oder später dazu führt, dass sie sich darauf stürzen wie Geier auf einen verendeten Kadaver in der Wüste. Das bedauernswerte Opfer ist die Person der Runde, die am wenigsten zur Konversation beigetragen hat und sich allgemein durch ein eher ruhiges Verhalten auffällig gemacht hat. Sie wird nun eingekreist und mit offensichtlichen Aussagen wie „Du bist immer so still“, Verallgemeinerungen wie „Nie sagst du etwas“ oder auch sehr unhöflichen Sprüchen wie „Ich wusste gar nicht, dass du auch da bist, ich habe dich ja nicht gehört“ traktiert.

Plötzlich ist dieser Mensch der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ein Ort, an den er ganz sicher niemals wollte. Und seine Peiniger scheinen eine perverse Freude zu empfinden ihn immer weiter zu bedrängen und mit dummen Sprüchen zu belästigen, bis er sich nur noch fragen kann, warum er sich den Umgang mit solchen Leuten überhaupt noch antut. Doch scheint es so, als könne man ihnen kaum entgehen, denn in jeder Gruppe scheint es sie zu geben, jene, die das offensichtliche in Worte fassen müssen, jene, die eine riesige Menge Sauerstoff verbrauchen in ihrem nicht enden wollenden Redeschwall, jene, die ihr Gehirn durch Sprechen beschäftigt halten wollen, damit es sie nicht mit Gedanken stören kann. All das wäre ja auch gar nicht schlimm, sicherlich sind diese Menschen sehr glücklich, wenn sie wieder einmal erzählen, wie toll sie doch sind oder waren in Situationen, die sonst niemanden interessieren. Doch scheint es ein wichtiger Bestandteil dieses Verhaltens zu sein alle, die anders sind, in für diese unangenehme Situationen zu zwingen, weil man sie ja aus der Reserve locken, sie erziehen oder umkrempeln muss.

Die Erklärung ist simpel: Die stilleren, weniger schwatzhaften Menschen verunsichern die anderen, weil sie sie nicht einschätzen können. Ihnen fehlen die Ansatzpunkte, da kein steter Strom an Informationen über Leben, Lieben und Leiden des Gegenübers zurück gesendet wird und damit können sie nicht umgehen. So verlegen sich die Wortliebhaber auf das einzige Mittel um ihre Unsicherheit und Angst zu überspielen und das einzige, worauf sie sich verstehen: Sie versuchen die so widernatürliche Stille tot zu reden. Letztlich erreichen sie jedoch das Gegenteil, denn wer keinen Bedarf an sinnlos ausgesprochenem Gerede hat, der wird sich nicht durch eben dieses verleiten lassen, sondern in den meisten Fällen sich eher noch weiter zurückziehen. 

Sehen wir, die wir gepeinigt werden von den lauten, tumben und geschwätzigen Schnackern, dies als Lichtblick: Sie fürchten uns, denn sie verstehen uns nicht. Das kann wiederum uns ein perverses Vergnügen bereiten.

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