Das Sonnenlicht glitzerte durch das
dichte Blätterdach über ihm hindurch. Blinzelnd setzte Karl seine
Sonnenbrille auf um nicht weiter geblendet zu werden, dann schaute er
doch kurz auf. Überrascht stellte er fest, dass er nun wohl schon
einige Stunden auf der kleinen Holzbank gesessen und sein Buch
gelesen hatte. Offenbar war die Lektüre doch spannender als der
unscheinbare Einband und der zähe Einstieg in die Geschichte ihn
hatte glauben lassen. Die Sonne war ein gutes Stück weiter gewandert
und hatte auf ihrem unaufhaltsamen Weg nun eine Höhe erreicht, die
für ein unangenehmes Kribbeln in seinem Gesicht sorgte. Etwas
abgelenkt veränderte Karl seinen Sitz auf der Bank leicht, um
weiterhin vom Schatten der Bäume um ihn herum zu profitieren.
Beiläufig pustete er eine kleine schwarze Spinne, die sich offenbar
verirrt hatte, von der geöffneten Seite seines Buches.
Karl liebte es seine freien Tage im
Sommer hier auf dieser abgelegenen Parkbank zu verbringen. Vor
einigen Jahren hatte er sie entdeckt, etwas versteckt von den
Hauptwegen und den großen Liegewiesen, auf denen bei dem schönen
Wetter die Menschen wie Sardinen in der Büchse nebeneinander lagen.
Sofort hatte er diesen kleinen verschwiegenen Ort sehr zu schätzen
gelernt. Er hasste den Lärm und die Hektik, der sich die anderen
offenbar so euphorisch hingaben. Hier konnte er in Ruhe lesen oder
auch einfach nur die Sonne genießen. Nur äußerst selten verirrte
sich ein anderer Spaziergänger hierher und meist verschwanden diese
auch sehr schnell wieder um im Trubel und Gewimmel der Stadt
aufzugehen.
Karl atmete einmal tief durch und
vertiefte sich wieder in sein Buch. Erneut musste er eine Spinne mit
einem leichten Pusten von seiner Seite entfernen, sie landete neben
ihm auf dem Boden. Die Geschichte war sehr spannend geschrieben.
Eigentlich hatte Karl wenig für Horrorromane übrig, zu konstruiert
waren sie oft und zu sehr auf simple Schockeffekte reduziert. Diesmal
war es jedoch anders, der Horror, der Schrecken, das Absonderliche
entwickelte sich langsam, schleichend, aus einer normalen,
alltäglichen Situation heraus, in die immer wieder beunruhigende
Eingriffe von bisher noch unbekannter Seite vorgenommen wurden. Seite
um Seite schien die Welt mehr aus den Fugen zu geraten und all das
ohne bildhafte Beschreibungen von unangenehmen Todesfällen und
blutigen Gewaltexzessen.
Vor dem Umblättern bemerkte Karl nun
schon zum dritten Male am Rand der Seite eine kleine schwarze Spinne.
Genervt schnaufte er, dies war der einzige Nachteil der
Abgeschiedenheit seines Lieblingsplatzes, er wurde von kleinen
Krabbeltieren genau so sehr geschätzt wie von ihm. Etwas verärgert
über die erneute Störung schnippte er das Tier mit seinen Fingern
vom Buch. In kleinem Bogen flog es durch die Luft und prallte dann
vor ihm auf den Kiesweg, wo es mit angezogenen Beinen leblos liegen
blieb. Ein kurzer Stich der Scham und Reue durchzuckte Karl, wie es
oft bei ihm der Fall war, wenn er absichtlich oder unabsichtlich ein
Insekt oder eine Spinne tötete. Kurz blieb sein Blick an dem
offenbar toten Tier auf dem Weg vor ihm kleben, dann widmete er sich
wieder der Geschichte. Eine besonders aufregende Stelle bahnte sich
an, welche seine volle Aufmerksamkeit einfing. Einige Minuten später
lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick schweifen. Eine
überraschende Wendung in der Geschichte hatte sich ereignet und Karl
wollte einen Augenblick darüber nachdenken. Scheinbar glitt der
Autor nun mehr und mehr auch in gängigere Horrorklischees ab,
zumindest vermittelte das brutale Ableben eines der Protagonisten
diesen Eindruck.
Etwas überrascht registrierte er am Rande, dass die
tote Spinne verschwunden war. Vielleicht war sie nur betäubt gewesen
oder von irgendeinem anderen der vielen krabbelnden Tiere im Umkreis
gefressen worden.
Schnell hatte sich dieser Gedanke
jedoch wieder verflüchtigt, Karl widmete sich wieder dem Buch auf
seinem Schoß. Er war etwas unschlüssig, ob er weiterlesen sollte.
Er hatte nichts übrig für vor Blut triefende Romane und Filme, er
mochte kein Blut. Selbst bei kleinen Schnittwunden wurde ihm schnell
schwarz vor Augen und allzu schnell ging es ihm ähnlich, wenn er von
Verletzungen oder Todesfällen las. Allerdings hatte er auch die
Angewohnheit ein angefangenes Buch zu Ende zu lesen. Es gab nichts
schlimmeres, als mittendrin abzubrechen und dieser Schande hatte Karl
sich auch erst wenige Male in seinem Leben hingeben müssen, Fälle,
in denen der Autor entweder seitenlang schwafelte ohne das geringste
bisschen Spannung aufzubauen oder die von so unendlicher Langeweile
geprägt waren, dass er kaum eine Seite lesen konnte ohne zu gähnen
oder mit offenen Augen einzuschlafen.
Leise seufzend rückte Karl sich etwas
auf der Bank zurecht und senkte wieder seinen Blick auf das Buch um
weiter zu lesen. Ein leises Kribbeln am linken Arm ließ ihn
zusammenzucken und sich kratzen, dann blätterte er um und folgte dem
Helden der Geschichte tiefer in die Abgründe menschlicher und
unmenschlicher Seelen. Schaudernd las er die Beschreibungen der
nächsten Morde und verfluchte insgeheim seine Besessenheit ein
angefangenes Buch zu beenden. Erneut kribbelte sein Arm und er
kratzte sich, dies riss ihn wieder etwas aus dem Sog des Schreckens
heraus. Karl bemühte sich um Konzentration und las einige weitere
Zeilen, ehe wieder dieses kitzelnde Geräusch, wie von kleinen
Beinchen, die über seinen Arm glitten, zu spüren war. Er zwang sich
dieses Mal nicht zu kratzen, sondern blickte von seiner Lektüre auf
und schaute seinen Arm an. Stirnrunzelnd beobachtete er eine weitere
kleine schwarze Spinne, die sich seinem Ellenbogen näherte. Langsam
und verwundert hob er den Arm und sah, dass das Tier nicht allein
war, sondern offenbar von ihrer Zwillingsschwester begleitet wurde.
Beide krabbelten immer höher und wären vermutlich in seinem Ärmel
verschwunden, hätte Karl sie nicht mit einer schnellen Handbewegung
heruntergefegt.
Eine der beiden schien sich nicht so
einfach abschütteln zu lassen, sondern baumelte an einem kurzen
Faden einige Zentimeter unter Karls Hand. Flink und geübt
erkletterte die Spinne die Hand und wollte sich anscheinend erneut an
ihm hochhangeln. Karl reagierte wie zuvor und versuchte das Tier von
seinem Arm zu pusten. Verblüfft beobachtete er, wie das kleine
Geschöpf seinen Körper runterpresste und seine Beine anlegte um
sich gegen den Luftstoß zu stemmen. Kurz darauf begann es wieder zu
krabbeln und wurde erst durch ein Schnippen seiner Finger vertrieben.
Karl sah sich um und betrachtete die Bank und ihre Umgebung. Etwas
verwundert über die aufdringlichen Spinnen schaute er nach weiteren
ihrer Art, nach einem Netz oder auch Nest, das er vielleicht
unbeabsichtigt beschädigt oder zerstört hatte. Beim Umschauen sah
er ein paar andere schwarze Spinnen, die auf der Bank und dem Boden
ringsum umherkrabbelten. Verwundert und auf seltsame Art beunruhigt
konnte er sehen, dass einige von ihnen offenbar zielgerichtet ihm
zustrebten, als lenke sie eine unbekannter Wunsch oder ein Drang, den
er nicht erkannte. Langsam klappte Karl das Buch zu und erhob sich
von der hölzernen Parkbank und trat einige Schritte zur Seite.
Erschrocken sah er zu, wie die wimmelnden Spinnen, von denen es immer
mehr zu geben schien, die Richtung wechselten und ihm folgten.
Karl entfernte sich langsam von seiner
Lieblingsbank, behielt dabei die Spinnen im Auge. Sie schienen aus
allen Löchern, aus allen Ecken, unter Steinen, Blättern, dem
Unterholz hervorzukriechen und es wurden immer mehr. Der Panik nahe
wandte sich Karl zur Flucht, doch voller Bestürzung erkannte er,
dass auch der Weg hinter ihm voller kleiner schwarzer Spinnen war,
die sich ihm näherten. Für einen Moment erstarrte er, ihm war kalt
und er wünschte sich aus diesem Traum zu erwachen. Einige der
kleinen Tiere begannen an seinen Beinen empor zu klettern. Mit einem
leisen Aufschrei und viel Gezappel streifte er die Spinnen ab, doch
schnell rückten andere nach und erreichten Hüfte und Arme. Zitternd
begann Karl zu laufen, viele der Spinnen wurden einfach von ihm
zertreten, andere krabbelten weiter über seinen Körper, über Arme,
Hände, seinen Hals, sein Gesicht. Keuchend suchte Karl den Rückweg
über den kleinen Pfad, zurück zum Hauptweg, zu den Liegewiesen, zu
anderen Menschen. Doch schienen die Bäume immer näher zu rücken,
schien der Weg eher schmaler und verlassener zu werden. Spinnen, die
über seine Augen krabbelten, machten die Orientierung immer
komplizierter. Fahrig versuchte er sie fortzuwischen, doch
zerquetschte er eine von ihnen nur, so dass er sich Schleim und
Chitinreste in sein linkes Auge rieb. Angeekelt, mit Brechreiz und
mit einem Herzen, das ihm bis zum Hals schlug, stolperte er weiter.
Eine aus dem Boden ragende Wurzel
brachte ihn zum Straucheln und er stürzte, sein Buch entglitt seinem
Griff und landete irgendwo im Unterholz. Hart schlug Karl auf, er
schmeckte Blut auf seiner Zunge und schürfte sich die Hände und
Arme großflächig auf. Kurz wurde ihm gänzlich schwarz vor Augen,
doch die winzigen krabbelnden Beine auf seinem gesamten Körper
holten ihn schnell wieder in die Realität zurück. Ein kurzer Blick
verdeutlichte ihm, dass sich die Zahl der Spinnen noch einmal
vervielfacht hatte. Es wirkte, als würden mehrere hundert von ihnen
über seinen Körper laufen. Sein Blick senkte sich etwas und er sah
die Wunden an Händen und Armen, sah das Blut heraus laufen, fühlte
den Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzog. Ächzend richtete er
sich auf, als ein Stechen seinen rechten Arm ergriff. Mit verzerrtem
Gesicht blickte er herab und sah einige Spinnen, die sich den
Abschürfungen genähert hatten und ihre kleinen Beißwerkzeuge in
sein verletztes Fleisch senkten. Schreiend vor Panik schlug er nach
ihnen, was einen neuen Schmerzschub auslöste, als er mit der flachen
Hand die Verletzung traf.
Weitere Bisse durchzuckten wie
Nadelstiche seine Beine und Arme. Auch andere Spinnen hatten begonnen
kleine Fleischbrocken von den Rändern seiner Wunden zu reißen und
zu verspeisen. Mit Tränen in den Augen und schreiend begann Karl
sich am Boden zu wälzen und zu rollen in der Hoffnung möglichst
viele seiner kleinen Peiniger zu zerquetschen. Doch es waren schlicht
zu viele und es schienen immer mehr zu werden, für jeden kleinen
schwarzen Körper, den er abschütteln oder töten konnte, tauchten
drei andere auf, die auf seinen Leib kletterten. Der Schmerz durch
ihre kleinen Kiefer machte ihn schier wahnsinnig, einige weitere
begannen durch verschiedene Körperöffnungen in ihn
hineinzukrabbeln. Bei jedem Schrei drangen mehr Spinnen in seinen
Mund vor, seine Nase verstopfte mehr und mehr, er hörte ihre kleinen
Beine in seinen Ohren krabbeln und kratzen. Sie schienen gezielt
dünne Hautschichten zu suchen und zu versuchen Löcher in seinen
Körper zu beißen. Er spürte das Zwicken und Kneifen an seinen
Lidern, seinen Lippen, seinen Ohrläppchen. Das letzte, was er jemals
sah, war seine Lieblingsbank einige Meter von ihm entfernt, davor die
Silhouetten von vielen achtbeinigen Wesen, die über seine Augen
krabbelten, bevor sich gnadenlose hungrige Beißwerkzeuge in seine
Augäpfel senkten und sie aus ihren Höhlen fraßen.
Schreiend vor Schmerzen, griff er
immer wieder um sich, erschlug und zerquetschte Spinne um Spinne,
doch machte es scheinbar keinerlei Unterschied. Immer weiter drangen
sie vor und fraßen sich geradezu in seinen Körper hinein. Karl
versuchte mehrfach wieder aufzustehen und sich weiter zu schleppen,
doch jedes Mal brach er nach wenigen Schritten wieder zusammen vor
lauter Pein. Schließlich war nur noch ein Winseln und Jammern aus
seinem Mund zu hören, der voller Spinnen war, die Brocken aus seinem
Zahnfleisch bissen und rissen, während das Blut in Strömen aus
vielen kleinen Wunden an seinem ganzen Körper lief. Bis zuletzt, bis
er aufgrund des Blutverlustes aus dem Leben glitt, spürte er das
enervierende Krabbeln und das schmerzhafte Beißen der kleinen
schwarzen Spinnen, die zu tausenden aus dem Unterholz gekommen war,
hoffte, dass jemand ihn hören und retten würde.
Als das Schreien schließlich erstarb
und als die Kreaturen, gesättigt vom Blut und Fleisch Karls, wieder
in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und im Unterholz verschwanden,
blieben nur einige abgeschälte Knochen sowie ein blutverschmiertes
Buch am Ort des Geschehens zurück. Ruhe kehrte wieder ein, nur von
fern drang der Lärm der spielenden Kinder und der Sonnenanbeter
herüber, die sich auf der Liegewiese im Licht zusammendrängten.
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