Donnerstag, 11. April 2013

Story: Ein Hauch von Sommer

Das Sonnenlicht glitzerte durch das dichte Blätterdach über ihm hindurch. Blinzelnd setzte Karl seine Sonnenbrille auf um nicht weiter geblendet zu werden, dann schaute er doch kurz auf. Überrascht stellte er fest, dass er nun wohl schon einige Stunden auf der kleinen Holzbank gesessen und sein Buch gelesen hatte. Offenbar war die Lektüre doch spannender als der unscheinbare Einband und der zähe Einstieg in die Geschichte ihn hatte glauben lassen. Die Sonne war ein gutes Stück weiter gewandert und hatte auf ihrem unaufhaltsamen Weg nun eine Höhe erreicht, die für ein unangenehmes Kribbeln in seinem Gesicht sorgte. Etwas abgelenkt veränderte Karl seinen Sitz auf der Bank leicht, um weiterhin vom Schatten der Bäume um ihn herum zu profitieren. Beiläufig pustete er eine kleine schwarze Spinne, die sich offenbar verirrt hatte, von der geöffneten Seite seines Buches.

Karl liebte es seine freien Tage im Sommer hier auf dieser abgelegenen Parkbank zu verbringen. Vor einigen Jahren hatte er sie entdeckt, etwas versteckt von den Hauptwegen und den großen Liegewiesen, auf denen bei dem schönen Wetter die Menschen wie Sardinen in der Büchse nebeneinander lagen. Sofort hatte er diesen kleinen verschwiegenen Ort sehr zu schätzen gelernt. Er hasste den Lärm und die Hektik, der sich die anderen offenbar so euphorisch hingaben. Hier konnte er in Ruhe lesen oder auch einfach nur die Sonne genießen. Nur äußerst selten verirrte sich ein anderer Spaziergänger hierher und meist verschwanden diese auch sehr schnell wieder um im Trubel und Gewimmel der Stadt aufzugehen.

Karl atmete einmal tief durch und vertiefte sich wieder in sein Buch. Erneut musste er eine Spinne mit einem leichten Pusten von seiner Seite entfernen, sie landete neben ihm auf dem Boden. Die Geschichte war sehr spannend geschrieben. Eigentlich hatte Karl wenig für Horrorromane übrig, zu konstruiert waren sie oft und zu sehr auf simple Schockeffekte reduziert. Diesmal war es jedoch anders, der Horror, der Schrecken, das Absonderliche entwickelte sich langsam, schleichend, aus einer normalen, alltäglichen Situation heraus, in die immer wieder beunruhigende Eingriffe von bisher noch unbekannter Seite vorgenommen wurden. Seite um Seite schien die Welt mehr aus den Fugen zu geraten und all das ohne bildhafte Beschreibungen von unangenehmen Todesfällen und blutigen Gewaltexzessen.

Vor dem Umblättern bemerkte Karl nun schon zum dritten Male am Rand der Seite eine kleine schwarze Spinne. Genervt schnaufte er, dies war der einzige Nachteil der Abgeschiedenheit seines Lieblingsplatzes, er wurde von kleinen Krabbeltieren genau so sehr geschätzt wie von ihm. Etwas verärgert über die erneute Störung schnippte er das Tier mit seinen Fingern vom Buch. In kleinem Bogen flog es durch die Luft und prallte dann vor ihm auf den Kiesweg, wo es mit angezogenen Beinen leblos liegen blieb. Ein kurzer Stich der Scham und Reue durchzuckte Karl, wie es oft bei ihm der Fall war, wenn er absichtlich oder unabsichtlich ein Insekt oder eine Spinne tötete. Kurz blieb sein Blick an dem offenbar toten Tier auf dem Weg vor ihm kleben, dann widmete er sich wieder der Geschichte. Eine besonders aufregende Stelle bahnte sich an, welche seine volle Aufmerksamkeit einfing. Einige Minuten später lehnte er sich zurück und ließ seinen Blick schweifen. Eine überraschende Wendung in der Geschichte hatte sich ereignet und Karl wollte einen Augenblick darüber nachdenken. Scheinbar glitt der Autor nun mehr und mehr auch in gängigere Horrorklischees ab, zumindest vermittelte das brutale Ableben eines der Protagonisten diesen Eindruck.

Etwas überrascht registrierte er am Rande, dass die tote Spinne verschwunden war. Vielleicht war sie nur betäubt gewesen oder von irgendeinem anderen der vielen krabbelnden Tiere im Umkreis gefressen worden.
Schnell hatte sich dieser Gedanke jedoch wieder verflüchtigt, Karl widmete sich wieder dem Buch auf seinem Schoß. Er war etwas unschlüssig, ob er weiterlesen sollte. Er hatte nichts übrig für vor Blut triefende Romane und Filme, er mochte kein Blut. Selbst bei kleinen Schnittwunden wurde ihm schnell schwarz vor Augen und allzu schnell ging es ihm ähnlich, wenn er von Verletzungen oder Todesfällen las. Allerdings hatte er auch die Angewohnheit ein angefangenes Buch zu Ende zu lesen. Es gab nichts schlimmeres, als mittendrin abzubrechen und dieser Schande hatte Karl sich auch erst wenige Male in seinem Leben hingeben müssen, Fälle, in denen der Autor entweder seitenlang schwafelte ohne das geringste bisschen Spannung aufzubauen oder die von so unendlicher Langeweile geprägt waren, dass er kaum eine Seite lesen konnte ohne zu gähnen oder mit offenen Augen einzuschlafen.

Leise seufzend rückte Karl sich etwas auf der Bank zurecht und senkte wieder seinen Blick auf das Buch um weiter zu lesen. Ein leises Kribbeln am linken Arm ließ ihn zusammenzucken und sich kratzen, dann blätterte er um und folgte dem Helden der Geschichte tiefer in die Abgründe menschlicher und unmenschlicher Seelen. Schaudernd las er die Beschreibungen der nächsten Morde und verfluchte insgeheim seine Besessenheit ein angefangenes Buch zu beenden. Erneut kribbelte sein Arm und er kratzte sich, dies riss ihn wieder etwas aus dem Sog des Schreckens heraus. Karl bemühte sich um Konzentration und las einige weitere Zeilen, ehe wieder dieses kitzelnde Geräusch, wie von kleinen Beinchen, die über seinen Arm glitten, zu spüren war. Er zwang sich dieses Mal nicht zu kratzen, sondern blickte von seiner Lektüre auf und schaute seinen Arm an. Stirnrunzelnd beobachtete er eine weitere kleine schwarze Spinne, die sich seinem Ellenbogen näherte. Langsam und verwundert hob er den Arm und sah, dass das Tier nicht allein war, sondern offenbar von ihrer Zwillingsschwester begleitet wurde. Beide krabbelten immer höher und wären vermutlich in seinem Ärmel verschwunden, hätte Karl sie nicht mit einer schnellen Handbewegung heruntergefegt. 

Eine der beiden schien sich nicht so einfach abschütteln zu lassen, sondern baumelte an einem kurzen Faden einige Zentimeter unter Karls Hand. Flink und geübt erkletterte die Spinne die Hand und wollte sich anscheinend erneut an ihm hochhangeln. Karl reagierte wie zuvor und versuchte das Tier von seinem Arm zu pusten. Verblüfft beobachtete er, wie das kleine Geschöpf seinen Körper runterpresste und seine Beine anlegte um sich gegen den Luftstoß zu stemmen. Kurz darauf begann es wieder zu krabbeln und wurde erst durch ein Schnippen seiner Finger vertrieben. Karl sah sich um und betrachtete die Bank und ihre Umgebung. Etwas verwundert über die aufdringlichen Spinnen schaute er nach weiteren ihrer Art, nach einem Netz oder auch Nest, das er vielleicht unbeabsichtigt beschädigt oder zerstört hatte. Beim Umschauen sah er ein paar andere schwarze Spinnen, die auf der Bank und dem Boden ringsum umherkrabbelten. Verwundert und auf seltsame Art beunruhigt konnte er sehen, dass einige von ihnen offenbar zielgerichtet ihm zustrebten, als lenke sie eine unbekannter Wunsch oder ein Drang, den er nicht erkannte. Langsam klappte Karl das Buch zu und erhob sich von der hölzernen Parkbank und trat einige Schritte zur Seite. Erschrocken sah er zu, wie die wimmelnden Spinnen, von denen es immer mehr zu geben schien, die Richtung wechselten und ihm folgten. 

Karl entfernte sich langsam von seiner Lieblingsbank, behielt dabei die Spinnen im Auge. Sie schienen aus allen Löchern, aus allen Ecken, unter Steinen, Blättern, dem Unterholz hervorzukriechen und es wurden immer mehr. Der Panik nahe wandte sich Karl zur Flucht, doch voller Bestürzung erkannte er, dass auch der Weg hinter ihm voller kleiner schwarzer Spinnen war, die sich ihm näherten. Für einen Moment erstarrte er, ihm war kalt und er wünschte sich aus diesem Traum zu erwachen. Einige der kleinen Tiere begannen an seinen Beinen empor zu klettern. Mit einem leisen Aufschrei und viel Gezappel streifte er die Spinnen ab, doch schnell rückten andere nach und erreichten Hüfte und Arme. Zitternd begann Karl zu laufen, viele der Spinnen wurden einfach von ihm zertreten, andere krabbelten weiter über seinen Körper, über Arme, Hände, seinen Hals, sein Gesicht. Keuchend suchte Karl den Rückweg über den kleinen Pfad, zurück zum Hauptweg, zu den Liegewiesen, zu anderen Menschen. Doch schienen die Bäume immer näher zu rücken, schien der Weg eher schmaler und verlassener zu werden. Spinnen, die über seine Augen krabbelten, machten die Orientierung immer komplizierter. Fahrig versuchte er sie fortzuwischen, doch zerquetschte er eine von ihnen nur, so dass er sich Schleim und Chitinreste in sein linkes Auge rieb. Angeekelt, mit Brechreiz und mit einem Herzen, das ihm bis zum Hals schlug, stolperte er weiter. 

Eine aus dem Boden ragende Wurzel brachte ihn zum Straucheln und er stürzte, sein Buch entglitt seinem Griff und landete irgendwo im Unterholz. Hart schlug Karl auf, er schmeckte Blut auf seiner Zunge und schürfte sich die Hände und Arme großflächig auf. Kurz wurde ihm gänzlich schwarz vor Augen, doch die winzigen krabbelnden Beine auf seinem gesamten Körper holten ihn schnell wieder in die Realität zurück. Ein kurzer Blick verdeutlichte ihm, dass sich die Zahl der Spinnen noch einmal vervielfacht hatte. Es wirkte, als würden mehrere hundert von ihnen über seinen Körper laufen. Sein Blick senkte sich etwas und er sah die Wunden an Händen und Armen, sah das Blut heraus laufen, fühlte den Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzog. Ächzend richtete er sich auf, als ein Stechen seinen rechten Arm ergriff. Mit verzerrtem Gesicht blickte er herab und sah einige Spinnen, die sich den Abschürfungen genähert hatten und ihre kleinen Beißwerkzeuge in sein verletztes Fleisch senkten. Schreiend vor Panik schlug er nach ihnen, was einen neuen Schmerzschub auslöste, als er mit der flachen Hand die Verletzung traf. 

Weitere Bisse durchzuckten wie Nadelstiche seine Beine und Arme. Auch andere Spinnen hatten begonnen kleine Fleischbrocken von den Rändern seiner Wunden zu reißen und zu verspeisen. Mit Tränen in den Augen und schreiend begann Karl sich am Boden zu wälzen und zu rollen in der Hoffnung möglichst viele seiner kleinen Peiniger zu zerquetschen. Doch es waren schlicht zu viele und es schienen immer mehr zu werden, für jeden kleinen schwarzen Körper, den er abschütteln oder töten konnte, tauchten drei andere auf, die auf seinen Leib kletterten. Der Schmerz durch ihre kleinen Kiefer machte ihn schier wahnsinnig, einige weitere begannen durch verschiedene Körperöffnungen in ihn hineinzukrabbeln. Bei jedem Schrei drangen mehr Spinnen in seinen Mund vor, seine Nase verstopfte mehr und mehr, er hörte ihre kleinen Beine in seinen Ohren krabbeln und kratzen. Sie schienen gezielt dünne Hautschichten zu suchen und zu versuchen Löcher in seinen Körper zu beißen. Er spürte das Zwicken und Kneifen an seinen Lidern, seinen Lippen, seinen Ohrläppchen. Das letzte, was er jemals sah, war seine Lieblingsbank einige Meter von ihm entfernt, davor die Silhouetten von vielen achtbeinigen Wesen, die über seine Augen krabbelten, bevor sich gnadenlose hungrige Beißwerkzeuge in seine Augäpfel senkten und sie aus ihren Höhlen fraßen. 

Schreiend vor Schmerzen, griff er immer wieder um sich, erschlug und zerquetschte Spinne um Spinne, doch machte es scheinbar keinerlei Unterschied. Immer weiter drangen sie vor und fraßen sich geradezu in seinen Körper hinein. Karl versuchte mehrfach wieder aufzustehen und sich weiter zu schleppen, doch jedes Mal brach er nach wenigen Schritten wieder zusammen vor lauter Pein. Schließlich war nur noch ein Winseln und Jammern aus seinem Mund zu hören, der voller Spinnen war, die Brocken aus seinem Zahnfleisch bissen und rissen, während das Blut in Strömen aus vielen kleinen Wunden an seinem ganzen Körper lief. Bis zuletzt, bis er aufgrund des Blutverlustes aus dem Leben glitt, spürte er das enervierende Krabbeln und das schmerzhafte Beißen der kleinen schwarzen Spinnen, die zu tausenden aus dem Unterholz gekommen war, hoffte, dass jemand ihn hören und retten würde. 

Als das Schreien schließlich erstarb und als die Kreaturen, gesättigt vom Blut und Fleisch Karls, wieder in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und im Unterholz verschwanden, blieben nur einige abgeschälte Knochen sowie ein blutverschmiertes Buch am Ort des Geschehens zurück. Ruhe kehrte wieder ein, nur von fern drang der Lärm der spielenden Kinder und der Sonnenanbeter herüber, die sich auf der Liegewiese im Licht zusammendrängten.

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