„Oh, ganz der Papa, bis auf die Füße, die hat er
offensichtlich von der Mutter. Und die Nase scheint er vom Onkel zu haben. Woher
nun aber die Ohrläppchen kommen, kann ich nicht sagen, die hab ich so noch nie
gesehen…“
Kaum ist ein Kind geboren, überschlagen sich die Verwandten
und Freunde mit Glückwünschen ob des neuen Erdenbürgers. Doch schon während sie
fröhlich grinsend und leicht lallend ihre klugen Sprüche formulieren, scheint
ihr Gehirn damit beschäftigt zu sein, den Säugling mit der gesamten Familie und
dem kompletten Bekanntenkreis zu vergleichen. Ein hohes Maß an Fantasie ist
notwendig um die runzligen, geschwollenen Füße der Urgroßmutter in den kleinen zarten
Zehen des Kindes zu erkennen, doch scheint das menschliche Hirn hier zu einer
erstaunlichen Leistung fähig zu sein.
Es werden die Babybilder aller Anwesenden vor das geistige
Auge gerufen und schon fällt es leichter zu sagen, dass der Schwung der Lippen
offenbar von der väterlichen Seite stammt. Verblüfft kann der unbeteiligte
Beobachter zuschauen, wie jedes Körperteil, jeder Zentimeter des Neugeborenen
akribisch unter die Lupe genommen, vermessen und in Zusammenhang mit Verwandten
gesetzt wird und seien sie noch so entfernt.
Gerne fällt an dieser Stelle auch die Frage an die Kinderlosen
unter den Gratulanten: „Na, wann ist es denn bei euch (endlich) soweit?“, oft
noch garniert von der süffisant-grinsend vorgetragenen Aussage: „Das steht dir
aber gut“, wenn es an einem selbst ist, das Kindelein unbeholfen auf dem Arm zu
halten.
Das Objekt der Betrachtung indes kümmert sich in der Regel
wenig um solche Vergleiche. Schlafend mit zusammengekniffenen Augen und leicht
geknautschtem Gesicht liegt es eigentlich nur da und jammert vielleicht ab und
zu nach Nahrung, während es herumgegeben, prüfend mit den Armen gewogen und
geherzt wird.
Sicherlich verbirgt sich hinter diesem Ritual des
körperlichen Prüfens und Vergleichens des neuen Familienmitgliedes ein
biologischer Zweck: Es wird auf Gebrechen untersucht und zusätzlich eine Bindung
aufgebaut, indem Ähnlichkeiten zur bereits bestehenden Familie erkannt und
verkündet werden. Die Gruppe erkennt rituell den Säugling als zugehörig an.
An dieser Stelle und abschließend allerdings die ketzerische
Einschätzung eines, weil noch nicht in den Genuss der Vaterschaft gekommenen,
Außenstehenden: Alle Babys sehen in den ersten Wochen ihres Lebens gleich aus.
Natürlich kann man Ähnlichkeiten zu den Babyfotos von Onkel, Tante, Großmutter
und Schwippschwager herstellen, denn auch sie sahen kurz nach der Geburt aus
wie E.T. der Außerirdische nach einem Sonnenbad, rot und knautschig. Die
Einbildung mag schön sein und gut für den Familienzusammenhalt, dennoch ist es
eben nur eine Einbildung. Allerdings wehe dem, der solches in Hörweite der
frisch gebackenen Mutter oder gar Großmutter erwähnt…
In diesem Sinne: „Und wann ist es endlich auch mal bei euch
soweit?“
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