Dienstag, 16. April 2013

Wahnsinn des Alltags: Babys



„Oh, ganz der Papa, bis auf die Füße, die hat er offensichtlich von der Mutter. Und die Nase scheint er vom Onkel zu haben. Woher nun aber die Ohrläppchen kommen, kann ich nicht sagen, die hab ich so noch nie gesehen…“

Kaum ist ein Kind geboren, überschlagen sich die Verwandten und Freunde mit Glückwünschen ob des neuen Erdenbürgers. Doch schon während sie fröhlich grinsend und leicht lallend ihre klugen Sprüche formulieren, scheint ihr Gehirn damit beschäftigt zu sein, den Säugling mit der gesamten Familie und dem kompletten Bekanntenkreis zu vergleichen. Ein hohes Maß an Fantasie ist notwendig um die runzligen, geschwollenen Füße der Urgroßmutter in den kleinen zarten Zehen des Kindes zu erkennen, doch scheint das menschliche Hirn hier zu einer erstaunlichen Leistung fähig zu sein.

Es werden die Babybilder aller Anwesenden vor das geistige Auge gerufen und schon fällt es leichter zu sagen, dass der Schwung der Lippen offenbar von der väterlichen Seite stammt. Verblüfft kann der unbeteiligte Beobachter zuschauen, wie jedes Körperteil, jeder Zentimeter des Neugeborenen akribisch unter die Lupe genommen, vermessen und in Zusammenhang mit Verwandten gesetzt wird und seien sie noch so entfernt. 

Gerne fällt an dieser Stelle auch die Frage an die Kinderlosen unter den Gratulanten: „Na, wann ist es denn bei euch (endlich) soweit?“, oft noch garniert von der süffisant-grinsend vorgetragenen Aussage: „Das steht dir aber gut“, wenn es an einem selbst ist, das Kindelein unbeholfen auf dem Arm zu halten.
Das Objekt der Betrachtung indes kümmert sich in der Regel wenig um solche Vergleiche. Schlafend mit zusammengekniffenen Augen und leicht geknautschtem Gesicht liegt es eigentlich nur da und jammert vielleicht ab und zu nach Nahrung, während es herumgegeben, prüfend mit den Armen gewogen und geherzt wird.

Sicherlich verbirgt sich hinter diesem Ritual des körperlichen Prüfens und Vergleichens des neuen Familienmitgliedes ein biologischer Zweck: Es wird auf Gebrechen untersucht und zusätzlich eine Bindung aufgebaut, indem Ähnlichkeiten zur bereits bestehenden Familie erkannt und verkündet werden. Die Gruppe erkennt rituell den Säugling als zugehörig an.

An dieser Stelle und abschließend allerdings die ketzerische Einschätzung eines, weil noch nicht in den Genuss der Vaterschaft gekommenen, Außenstehenden: Alle Babys sehen in den ersten Wochen ihres Lebens gleich aus. Natürlich kann man Ähnlichkeiten zu den Babyfotos von Onkel, Tante, Großmutter und Schwippschwager herstellen, denn auch sie sahen kurz nach der Geburt aus wie E.T. der Außerirdische nach einem Sonnenbad, rot und knautschig. Die Einbildung mag schön sein und gut für den Familienzusammenhalt, dennoch ist es eben nur eine Einbildung. Allerdings wehe dem, der solches in Hörweite der frisch gebackenen Mutter oder gar Großmutter erwähnt…

In diesem Sinne: „Und wann ist es endlich auch mal bei euch soweit?“

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